19.03.2014

Wenn Fäden Geschichten erzählen

Mittelalterliches Altartuch aus dem Museum Lüneburg zur Bearbeitung in der Textilrestaurierungswerkstatt der Klosterkammer Hannover

Betrachten das textile Kunstwerk: Ada Hinkel, Wiebke Haase und Tanja Weißgraf (v. l.) an einem Arbeitstisch in der Textilrestaurierungswerkstatt im Kloster Lüne.
Foto: Klosterkammer Hannover

Engel breiten ihre Flügel zwischen einzelnen Szenen aus, im Zentrum steht die Kreuzigung Jesu. Rundherum reihen sich 38 gestickte Abbildungen, die das Leben von Gottes Sohn erzählen. „Einzigartig ist das textile Kunstwerk aus der Mitte des 14. Jahrhunderts wegen seiner Ausmaße von insgesamt 4,50 Metern mal knapp 1,30 Meter sowie der farbigen Darstellungen“, erklärt Ada Hinkel. Die freiberufliche Textilrestauratorin aus Hamburg ist froh, die Textilrestaurierungswerkstatt der Klosterkammer Hannover im Kloster Lüne für ihre Arbeit nutzen zu können. „Die Bedingungen sind großartig, für das Objekt entfällt der Transport und die Atmosphäre auf dem Klostergelände ist sehr schön.“ Sie arbeitet seit Januar an dem Ausstellungsstück des Museums Lüneburg. Das Museum ist seit Jahren geschlossen, der Neubau soll im Herbst 2014 eingeweiht werden.

Wiebke Haase und Tanja Weißgraf, die beiden Textilrestauratorinnen der Klosterkammer, teilen ihr Domizil gerne für etwa vier Monate mit der Hamburgerin. „Ich habe es vorgeschlagen. Der Austausch unter Kollegen ist wichtig“, meint Wiebke Haase. Die beiden verfolgen die Arbeit an dem außergewöhnlichen Stück mit Interesse und empfangen mehr Besucher als sonst. Denn auch für Journalisten ist die Werkstatt ein beliebtes Ziel geworden, um über die Arbeit an dem Altartuch zu berichten. Außerdem wird die Restaurierung durch ein Lüneburger Filmteam detailliert dokumentiert. Der Film soll später in der Ausstellung zu sehen sein, damit die Besucher die einzelnen Arbeitsschritte nachvollziehen können. Das über 650 Jahre alte Gewebe soll einer der Höhepunkte der ständigen Ausstellung werden.

Zunächst hat Ada Hinkel den Zustand des in sieben Fragmenten erhaltenen feinen Leinengewebes, das mit Seiden- und Metallfäden bestickt ist, dokumentiert. Jedes Teilstück hat sie in Segmente unterteilt, den Zustand jeweils beschrieben und fotografiert. „Man kann sich das wie eine Patientenakte vorstellen“, erläutert die Textilrestauratorin. Ein weiterer Schritt war die Entfernung des Staubes sowie des Untergewebes, auf dem die einzelnen Teile zusammen aufgebracht waren. Dieses stammt von der vorigen Bearbeitung einer Textillehrerin aus den 1960er-Jahren. „Mein Grundsatz ist, so wenig wie möglich in die ursprüngliche Substanz einzugreifen“, sagt Ada Hinkel. Indem sie nur Fehlstellen unterlegt, bleibt die Rückseite des Leinenstoffes sichtbar – ein wichtiger Aspekt für die weitere Forschung zur Historie des Kunstwerkes. Die Restauratorin glättet das Gewebe, ordnet die Fäden: „Es geht darum, den Zustand zu erhalten den das Objekt hat.“

Bisher ist über das Stück bekannt, dass es im Kloster Heiligental nahe Lüneburg in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist. Als Altardecke wird es geführt, weil die Anordnung der Szenen diesen Gebrauch nahelegt. Ungewöhnlich für die Art von Textilien aus dem Spätmittelalter ist jedoch die detailreiche, farbige Stickerei. Dank der Konservierung und Restaurierung bleibt das filigrane Kunstwerk für weitere Generationen erhalten. Und Kunsthistoriker bekommen die Chance, dessen Geheimnisse zu lüften. (lah)